Die Vergangenheit als Illusion

Wir sind Wesen der Vergangenheit. Unsere Persönlichkeit entsteht in der Reflexion des bereits Erfahrenen. Die Frage nach dem „wer sind wir“ ist eine sich ständig entwickelnde, nicht zu stoppende Überlegung, die durch Erlebnisse gespeist wird. So ist unser Bewusstsein zwar dauerhaft in der Gegenwart kann jedoch nicht ohne Vergangenheit existieren, da wir im Laufe der menschlichen Evolution gelernt haben die Erinnerung als ständigen Begleiter unbewusst mit uns zu tragen. Was einst Schutzmechanismus war, wurde mit zunehmender Sicherheit durch die Zivilisation zur Bürde, welche sich in jeder neuen Entscheidungsfindung zu erkennen gibt und Zweifel säht. Bei jeder neuen Entscheidung wägen wir zwischen einer Vielzahl an Spekulationen ab und bilden diese dann anhand des bereits erlebten.

Nun stellt sich die Frage, was dieses bereits Erlebte ist. Was ist Vergangenheit und inwiefern ist sie wirklich existent? Könnte es nicht sein, dass die Vergangenheit in jeder einzelnen Sekunde der Gegenwart neu produziert wird und eine individuelle Sichtweise hinterlässt? Verkommt die Vergangenheit nicht zur bloßen Fiktion im Moment des Vergehens? Inwiefern ist die Vergangenheit nur eine Konstruktion unserer Fantasie?

Mit diesen Fragen möchte ich mich in diesem Essay beschäftigen, wobei der Fokus in der Frage liegt, in wie weit uns die Vergangenheit mehr Schaden als Nutzen zufügt und wie sinnvoll es wirklich ist sich auf sie zu berufen.

Erinnern und Vergessen

Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.

Albert Einstein

Wenn wir in die Zukunft sehen wollen blicken wir immer erst in die Vergangenheit zurück. In ihr finden wir Kraft, Mut und Sicherheit. Sie ist an Ort der Wehmütigkeit in Form von Nostalgie, sowie ein Ort der Hoffnung. Doch was sind diese Erinnerung auf die wir uns von Tag zu Tag berufen? In erster Linie sind sie Bilder und Gefühle welche wir glauben erlebt zu haben. Im Moment des Zurückerinnerns werden sie in unserem Gehirn auf der Basis einer Vermutung gebildet, wie das bereits vergangene Erlebte wohl ausgesehen haben möge. Diese Vermutung wird im Moment des Zurückerinnerns zur Realität und damit zu einer von uns künstlich erschaffenen Quelle der Kraft oder Sorge, je nach dem in welchem Szenario wir uns gerade verbinden. Daher spielt es keine Rolle ob tatsächlich so geschehen oder nicht. Wichtig ist nur, dass wir an die Existenz dieser Erfahrung glauben.

Wir sind in dauerhafter Entwicklung und so baut alles gerade Passierende auf dem bisher Geschehenen auf und kann als kausale Reaktion betrachtet werden. So sind auch wir mit unserer ganzen Persönlichkeit Erzeugnisse der Vergangenheit und resultieren aus dem bisher Erlebten. Unsere ganze Existenz beruht auf der Basis der Vergangenheit. Daher entsteht ebenfalls die Zukunft aus dem Vergangenen, in dem unsere Gegenwart vom Damals beeinflusst wird. Jedoch ist es wichtig zu erkennen, dass sich die Gegenwart fortwährend auf einem Scheideweg befindet und nicht vorhersehbar ist. Sie ist eine bloße Spekulation, welche auf den Erfahrungen einer ehemaligen Zeit basiert.

Mandela- Effekt

Der Mandela- Effekt steht für das Phänomen von kollektiv falschen Erinnerung an Fakten oder Ereignisse. Der namensgebende Auslöser war der Tod Nelson Mandelas 2013, bei dem viele Menschen behaupteten sich an seinen Tod in den 80er Jahren erinnern zu können.

Ein anderes Beispiel wäre der berühmte Satz aus Star Wars „Luke, ich bin dein Vater“, welcher so nicht im Film vorkam, sondern „Nein, ich bin dein Vater“ oder das Ende des Liedes „We are the Champions“ bei dem Freddie Mercury „of the world“ singt, dies jedoch nie im Lied vorkam.

Die wahrscheinlichste Erklärung dieses Phänomens ist die Konfabulation. Diese psychologische Theorie geht davon aus, dass eine falsche Erinnerung durch eine dauerhafte Wiederholung einer großen Anzahl an Personen irgendwann für wahr befunden wird.

Das Gleiche gilt nun auf für individuelle Erinnerung, die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben. Wenn unsere Mutter davon erzählt, wie wir als 5-Jähriger einem kleinen Eichhörnchen hinterhergerannt sind oder wie die große Schwester einmal mit dem Fahrrad gegen die Autotür gefahren ist werden wir diese Erzählung womöglich als wahr betrachten uns darauf in unserer Fantasie eine Erinnerung an dieses Ereignis erstellen. Positiv beeinflusst wird das Ganze, wenn Vater und Schwester der Erzählung zustimmen und ihre Perspektive der eigentlich falschen Erinnerung erzählen.

Eine beliebte Frage ist folgende: „Was hast du am 11.09.2001 gemacht?“ Fast jeder kann darauf im Stehgreif eine Geschichte erzählen, die sich jedoch vermutlich nie zugetragen hat.

Diese Beispiele sollen zeigen, wie leicht es ist eine falsche Erinnerung zu erzeugen und wie häufig wir ein Ereignis aus der Vergangenheit verfälschen bis eine gänzlich andere Erfahrung dabei herausgekommen ist

Der Nutzen des Erinnerns

Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.

Søren Kierkegaard

Nun stellt sich die Frage, inwiefern wir unser gegenwärtiges Befinden auf Erlebnissen der Vergangenheit aufbauen möchten und inwieweit wir uns on bloßen Konstruktionen unseres Gedächtnisses beeinflussen lassen wollen. Bereits Platon war der Auffassung, dass die Vergangenheit ein ausschließlich in der Theorie existierendes Gebilde ist und die Gegenwart als das einzig wirklich existente angesehen werden kann. Im Buch „Du bist genug“ lässt Ichiro Kishimi und Fumitake Koga den berühmten österreichischen Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler folgende Sätze sprechen. „Jeder Mensch trägt eine Geschichtensammlung in sich, die zusammengenommen die Geschichte des „Ich“ ausmachen, und schreibt seine Vergangenheit so, wie es gerade passt, um das gegenwärtige Selbst zu rechtfertigen“ Oder „Von den unzähligen Ereignissen, die in der Vergangenheit eines Menschen passiert sind, wählt dieser nur solche aus, die mit den gegenwärtigen Zielen kompatibel sind, gibt ihnen eine Bedeutung und verwandelt sie in Erinnerungen“ Abgeschlossen wird diese Theorie mit Satz „Die Vergangenheit entscheidet nicht über das „Jetzt“. Es ist unser „Jetzt“, das über die Vergangenheit entscheidet.“

So sagt Alfred Adler also, dass die Vergangenheit keine Relevanz für unsere Gegenwart und damit über unsere Zukunft hat. Sie hat nur Bedeutung, wenn wir sie ihr geben. Daher ist es wichtig zu überlegen, inwieweit wir unser Leben von der Vergangenheit abhängig machen wollen, wenn sie doch nicht mehr als nur eine von uns selbst konstruierte Illusion ist. Selbstverständlich ist es wichtig im Leben Referenzpunkte zu haben auf denen wir aufbauen können. Das Vergangene kann uns wie bereits erwähnt viel Kraft, Mut und Hoffnung geben. Sie lässt uns nach dem Streben was bereits einmal war. Doch viel ist genau das die Tücke des Erinnerns. Das Fallen in nostalgische Verließe, welche die Perspektive unserer Zukunft fesselt und im Kleinen hält. So können wir dadurch nur nach dem Streben was einmal war. Was ist aber, wenn es noch viel Schöneres und Höheres gibt, nach dem wir streben könnten? Diese Möglichkeiten werden uns niemals offenbart, wenn wir die Zukunft nur als Wiederbelebung der Vergangenheit betrachten wollen. Daher sagt Kierkegaard auch richtigerweise, dass das Leben nur in der Schau nach vorne gelebt werden kann. Es ist keine Perspektive nach genau dem zu streben, was einmal war. Als Referenz und Orientierung kann die Vergangenheit gerne betrachtet werden, um Hoffnung und Mut dadurch genieren zu können. Aber wer das Ideal in der Vergangenheit sucht vernebelt damit seinen Blick nach vorne. Dann wirkt die Erinnerung und somit die Vergangenheit betäubend und hindert sowohl Gegenwart als auch Zukunft.

Die Erfahrung ist wie eine Laterne im Rücken; sie beleuchtet stets nur das Stück Weg, das wir bereits hinter uns haben.

Konfuzius

In meinem Essay „Die Vergänglichkeit eines Zustandeshabe ich mich weiterhin mit dem Thema Zeit und Erleben beschäftigt. Dieser ist unter diesem dem blau-markierten Link zu finden.

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